Saturday, 11 October 2014

Zum Tod von Udo Reiter: Ein heiterer Kämpfer

Sein Leben war eine Herausforderung. Autounfall mit 22 Jahren, Rollstuhl. Karriere beim Rundfunk, als Westdeutscher erfolgreicher Intendant im Osten. Udo Reiter triumphierte, wo andere aufgegeben hätten.
 
Es hatte eine gewisse Leichtigkeit, mit der Udo Reiter über Themen sprach, über die andere noch nicht mal nachzudenken wagten. Es war Herbst 2011, mein Kollege Thomas Tuma und ich standen auf dem riesigen Grundstück vor Reiters Haus in Gottscheina bei Leipzig. Das Gebäude - ein umgebautes Dorfschulhaus aus Vorkriegszeiten - bewohnte er die meiste Zeit allein.
 Zuvor hatten wir ein SPIEGEL-Gespräch mit ihm geführt. Es sollte nichts weniger sein als die Bilanz seines Lebenswerkes. Und während wir da draußen standen, das Laub sich auf der Wiese um den großen Teich herum türmte, erzählte Reiter, wie gerne er mit dem Trecker herumfahre, wie beschwerlich es für ihn sei, da raufzuklettern und irgendwann eben einfach nichts mehr gehe. Gar nichts mehr. Er sagte das alles ohne Verbitterung, eher mit dem für ihn typischen Lachen.

 Das pralle Leben im Studentenheim - eine Qual


Reiter saß den größten Teil seines Lebens - fast ein halbes Jahrhundert - im Rollstuhl. Er war 22 Jahre alt und hatte gerade die Aufnahmeprüfung für eine Pilotenausbildung bei der Lufthansa bestanden, als er an einem Dezembertag auf eisglatter Fahrbahn mit seinem VW Käfer zwischen Pfaffenhofen und München verunglückte. Es war die Zeit, in der es kein wirkliches Rettungsdienstsystem gab.
Als er im Krankenhaus Pfaffenhofen aufwachte, standen seine Verwandten um ihn herum - Reiter war vom fünften Brustwirbel abwärts gelähmt. Ein Leben brach für ihn zusammen, die Eltern waren bisweilen überfordert, der behandelnde Arzt zeigte wenig Fingerspitzengefühl bei der Mitteilung der Diagnose. Noch sieben Jahre, das sei ungefähr seine Lebenserwartung.
Freunde konnten Reiter zur Fortsetzung seines Studiums überreden, er studierte Germanistik und Geschichte an der LMU in München. Die Zeit im Studentenheim quälte ihn, durch die dünnen Wände drang das pralle Leben seiner Mitbewohner, er musste sich über einen Tisch auf die Toilette stemmen, weil die Tür für seinen Rollstuhl zu schmal war.
Reiter fasste den Entschluss, sich umzubringen. Er hatte seine Doktorarbeit noch fertig geschrieben, schließlich sollte auf seinem Grabstein Dr. Udo Reiter stehen. Er beantragte in Lindau einen Waffenschein, besorgte sich eine Smith & Wesson 38 Special. Er schrieb einen Abschiedsbrief an seine Eltern und trank ein letztes Bier.
Und dann kam es, Reiter beschrieb es später mal als "eine Art Damaskuserlebnis". Er wollte leben und legte die Waffe weg. Er pfiff auf die ihm zugeschriebene Lebenserwartung, entschied sich für eine berufliche Laufbahn, den Journalismus.

Ziehvater von Gottschalk und Jauch
 
Reiter begann beim Bayerischen Rundfunk ganz unten. Sein Aufstieg verlief rasend, er wurde Redakteur, Chefredakteur und 1986 Hörfunkdirektor. Er förderte Thomas Gottschalk. Der zeigt sich heute schwer erschüttert von Reiters Tod: "Es gibt niemanden, der meine frühe Karriere so entschieden unterstützt hat wie Dr. Reiter in seiner Zeit als Programmdirektor des Bayerischen Rundfunks", sagte Gottschalk. "Ich verdanke ihm unendlich viel und unsere spätere Freundschaft entstand auch aus dieser Dankbarkeit. Gerade deswegen konnte ich seinen öffentlichen Einsatz für einen selbstbestimmten Tod nur schwer nachvollziehen, für den er sich jetzt, viel zu früh, entschieden hat."
Böse Zungen behaupteten, Reiter habe seinen Aufstieg auch wegen seines Rollstuhls hinbekommen - mit solchen Vorwürfen ist Reiter stets humorvoll umgegangen, wie dieser Text zeigt.
Kurz nach der Wiedervereinigung ging Reiter nach Leipzig, wo er den Auftrag der drei Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bekam, den Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) aufzubauen. Wenn der abgenutzte Ausdruck "Wilder Osten" überhaupt Anwendung finden sollte, dann für die Anfangsjahre des MDR. Die Anstalt war auf 42 Standorte verteilt, Reiter sagte mal, der Aufbau sei wie "Wenden auf der Autobahn" gewesen. Er konnte Geschichten erzählen, die wie aus einer anderen Welt klangen. Eine ging so: Ein Mitarbeiter habe beschlossen, von nun an eine eigene Klokabine haben zu wollen. So baute er ein Vorhängeschloss an die Kabinentür und beanspruchte fortan diese Toilette für sich.

Vom erfolgreichsten dritten Programm zum KiKa-Skandal
 
Reiter war wie geschaffen für die Aufgabe, den MDR aufzubauen. Er entschied schnell und bisweilen aus dem Bauch heraus. Das führte zwar zum erfolgreichsten dritten Programm, mündete aber auch mehr als einmal im Desaster. Unter seiner Verantwortung wurden Gebührengelder am Aktienmarkt verzockt - zweieinhalb Millionen Mark gingen beim Ankauf von ecuadorianischen Staatsanleihen verloren. Ein anderes Problem: Einige Mitarbeiter hatten eine Stasi-Vergangenheit, nicht alle wurden überprüft. Reiter rechtfertigte das so: "Ich war anfangs um jeden froh, der ein Mikrofon halten konnte, und wir haben bei den Einstellungen keine großen biografischen Nachforschungen angestellt."
Kurz darauf gab es Wirbel um den damaligen MDR-Sportchef Wilfried Mohren, er hatte für Schleichwerbung die Hand aufgehalten. Schließlich wurde bekannt, dass ein Mitarbeiter des Kinderkanals Millionen Euro abgezweigt hatte. Ein Vorgang, der Reiter wirklich traf. Kurz vor seiner Rente musste er auch seinen Unterhaltungschef feuern, der das Thema Buchführung recht kreativ anging.
Als der SPIEGEL mit dem Programm des MDR einmal in harten Worten abrechnete, es sogar aus der Politik Protestnoten hagelte, dass man so etwas nicht schreiben dürfe, war es Reiter, der wohl insgeheim die Sache ganz lustig fand. Im SPIEGEL-Gespräch gestand er, dass er wohl nie Ostdeutscher werden würde.

Lebenserwartung "gewaltig überzogen"
 
Mit Reiter verließ das letzte Urgestein die ARD, er gehörte zu einer Generation von Machern, die sich was trauten, aber eben auch skandalanfälliger waren. Während heute in vielen Intendanzstuben eine Riege von starren Verwaltern regiert, in Pepita-Sakkos und mit beinahe jeder Verwaltungsvorschrift im Kopf, reihte sich Reiter ein in den Kreis der ARD-Patriarchen wie Fritz Raff, Fritz Pleitgen, Jobst Plog oder Peter Voss.
Bei der jährlichen Berlinale-Party der ARD-Produktionstochter Degeto scharten sich die jungen Schauspielerinnen um seinen Rollstuhl. Sie wollten einen Part, er unterhielt die Runde. Reiter liebte es, in den Intendantenkonferenzen den Alterspräsidenten zu geben. Während sich andere über den Druckfehler in einer Tischvorlage echauffierten, hatte er sie nur überflogen und trotzdem besser verstanden, worum es eigentlich ging. Vielleicht war es auch seine Behinderung, die ihm vieles relativ erscheinen ließ.
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Einmal schrieb er einen Brief an den damaligen WDR-Intendanten Pleitgen. Es ging um die Verschiebung eines Ausstrahlungstermins. Darin wetterte Reiter: "Die ARD ist keine Armee, und Sie sind nicht Napoleon." Das würde heute wohl keiner mehr schreiben. Seinem Wegbegleiter Thomas Gottschalk ebnete er noch ARD-intern das Terrain für sein Vorabend-Comeback - wenngleich die Show floppte und eingestellt wurde. Nachdem Reiter 2011 in Rente ging, widmete er sich einem Lebensthema: dem humanen, selbstbestimmten Sterben. Er schrieb einen Debattenaufsatz für die Süddeutsche Zeitung, sprach in Talkshows dazu. Als er gemeinsam mit seiner Frau, der Schriftstellerin Else Buschheuer, nach Hamburg fuhr, um einen langjährigen SPIEGEL-Redakteur zu verabschieden, sprach er auch bei dieser Gelegenheit über "sein" Thema.
Udo Reiter starb am Freitag auf seiner Terrasse in Gottscheina - nach Erkenntnissen der Polizei hat er sich erschossen. In einem TV-Talk sagte er im vergangenen Jahr: Er habe seine prognostizierte Lebenserwartung "gewaltig überzogen".

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